Eine noch immer offene Wunde: Das Attentat in Hanau und seine Folgen
Besuch des Opferbeauftragten der Stadt Hanau, Andreas Jäger, am Franziskanergymnasium Kreuzburg
Dass das „keine normale Unterrichtsstunde“ zum Thema „Rassismus“ werden wird, ist auf einen Blick zu erkennen: Ein Sitzkreis mit 19 Schülerinnen und Schülern des Q1-Geschichtskurses von Lukas Bergmann, mit elf 15-16-jährigen Jugendlichen aus der Partnerschule Colégio Visconde de Porto Seguro in Sao Paulo, die sich im Rahmen des Austausches an ihrer Partnerschule Kreuzburg in ihrer 4. Woche befinden, mit dem Vater einer Elftklässlerin, der zur Zeit auch Gast“vater“ einer brasilianischen Schülerin ist und schließlich mit Bruder Bernardin und Schulleiter Thomas Wolf, die den Referenten erfreut als ehemaligen Kreuzburgschüler und Themenexperten begrüßen. Eine ziemlich ungewöhnliche Lerngruppe also, sozusagen eine kleine bunte Vielfalt bzgl. Alter, Erfahrungen, Zugängen zum Thema, Lebenskulturen und -orten, die sich hier am Mittwochnachmittag in Raum D005/006 zusammengefunden hat. Eine Anfrage der Koordinatorin des Brasilienaustauschs der Kreuzburg bei der Stadt Hanau in Bezug auf Angebote zur Aufarbeitung des Attentats am 19.02.2020 hatte durch Weiterleitung in das Büro der Fachstelle Vielfalt und zu dem Leiter der Fachstelle, Andreas Jäger, geführt, der spontan einen Besuch an seiner alten Schule für den 11. Januar zusagte. Kurz nach dem Attentat wurde er zum Opferbeauftragten der Stadt Hanau als Ansprechpartner für die Betroffenen und Angehörigen der Opfer ernannt, just zu einem Zeitpunkt, als der erste Lockdown als Reflex auf die Pandemie viele Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zerschlug. Als sehr herausfordernd habe er die Anfrage zu dieser Tätigkeit empfunden und sich schon gefragt, ob er die Konfrontation mit so viel Leid und Schmerz eigentlich aushalten würde: „Kann ich das schaffen?“, habe er seine Frau gefragt. Dazugekommen sei die massive Erschütterung darüber, dass so etwas in seiner Stadt Hanau, die er als so offen und multikulturell erlebe, passiert sei: „Überall – aber nicht in meinem Hanau!“, das sei eigentlich seine tiefe Überzeugung gewesen. Der nachhaltige Schock wird für die Schülerinnen und Schüler greifbar, die aus der Region vergegenwärtigen sich, wie sich das „damals“, vor fast 3 Jahren, angefühlt hat. „Die Opfer waren keine Fremden“ – diese Plakate hingen danach überall in der Stadt Hanau, und die Aussage spiegelte auch das ehrliche Empfinden der Hanauer wider: Man habe fast den Eindruck gehabt, alle Einwohner hätten in irgendeiner Form Verbindungen zu den Familien der Opfer gehabt, jemanden gekannt, der die Familien kannte, die schon lange in Hanau wohnten, integriert waren… Nicht zu fassen: Ein rassistisch motiviertes Attentat, hier im friedlichen Multi-Kulti-Miteinander Hanaus? „Hanau steht zusammen“ lautete die allgegenwärtige Aufschrift auf anderen Plakaten – und das wurde auch so empfunden, diese Verbundenheit in Trauer einer ganzen Stadt um acht gewaltsam getötete junge Hanauer und eine Hanauerin in einer einzigen Nacht. Der Täter: Hanauer, wie sie.
Die Geschehnisse rund um das Attentat wurden oft beschrieben, auch die Pannen in der Tatnacht. Die Jugendlichen interessiert, wie Andreas Jäger das aus nächster Nähe erlebt hat und heute immer noch erlebt. Was kann er darüber berichten, was an welchen Stellen schieflief, wie es zu dem Ausmaß dieses Horrors kam? Und welche „Zwischenbilanz“ lässt sich heute, 3 Jahre später ziehen? Andreas Jäger hat bis heute – neben vielen anderen Aufgaben in der Fachstelle Vielfalt – täglich mit den Familien der Opfer zu tun, kein Tag ohne Telefonat. Seine Aufgabe bestand und besteht im Zuhören und in der Organisation und Koordination von Hilfsangeboten, auch finanzieller Art, und Sozialleistungen. Er ist für sie derjenige, der etwas in Bewegung bringen und Verbesserungen erwirken kann. Selbstkritisch merkt er an, dass da – trotz allen Engagements – noch mehr gegangen wäre. Heute wäre man weiter in seinen Möglichkeiten, auch durch diese schlimmen Erfahrungen. Und die Opferfamilien? Die Fragen seien nicht weniger und die Verzweiflung der Angehörigen nicht kleiner geworden, bohrende Fragen und das Leiden an aberwitzig vielen Unzulänglichkeiten in dieser Nacht seien nach wie vor schmerzhaft. Andreas Jäger dazu: „Der Notruf war überlastet, da es in der Polizeistation Hanau ein altes System gab, welches die eingehenden Anrufe nicht weiterleiten konnte. Deswegen konnten Anrufe nicht angenommen werden. Die Kolleginnen und Kollegen der Polizei am Tatort haben ihre Arbeit gemacht. Aber natürlich war niemand auf so einen Einsatz vorbereitet. Viele waren in dieser Nacht an ihrer Belastungsgrenze.“ Die Angehörigen mussten drängen, dass bestimmte Nachforschungen und Ermittlungen in Gang kamen. Es existiert der Vorwurf des verschlossenen Notausgangs in der Arena-Bar. „Warum dieser verschlossen wurde und ob er verschlossen war, darüber gibt es viele Spekulationen und Aussagen. Der Untersuchungsausschuss in Wiesbaden muss diese Fragen beantworten. Alle waren in einer Ausnahmesituation in dieser Nacht und es gibt verschiedene Perspektiven, die sicher alle ihre Berechtigung haben“, betont der Opferbeauftragte. Ein Detail der extremen Belastung der Opferfamilien durch das Verhalten des Vaters des Täters, der für seine rechtsideologische Gesinnung und sein Verschwörungsdenken bekannt sei, trifft die Anwesenden besonders, ihre Gesichter verraten es: Der Mann, der nur wenige Häuser entfernt von Opferangehörigen wohnt, sucht immer noch, bis heute den Kontakt zu den Familienmitgliedern auf seinen Spaziergängen mit dem Schäferhund und verwickelt sie in Gespräche. Er vertritt die These, sein Sohn habe die Tat nicht begangen, hat geklagt, weil er die Tatwaffen erhalten möchte und plädiert dafür, dass das vielseitige, mit rechtsextremem Gedankengut und Verschwörungsdenken getränkte Pamphlet des Sohnes wieder auf die Website gestellt wird. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie diese Konfrontationen und Aktionen die Angehörigen belasten müssen…
“Was weiß man über den Täter?“ „Woher bekam er die Waffen?“ „Wie hat er seine Opfer ausgemacht?“, möchten die brasilianischen Schüler und Schülerinnen wissen. Sie werden informiert, dass der Täter das Attentat schon lange geplant hatte, dass er wusste, dass die muslimischen Mitbürger in den Shishabars anzutreffen waren. In seiner Denkweise hätten sie für ihn all das repräsentiert, was er ablehnte und sie seien, in seiner Logik, die Ursache dafür gewesen, dass es ihm selbst schlecht gegangen sei. Und er habe einen Waffenschein besessen, vom zuständigen Amt ausgestellt. Über das Negative wurde im Rahmen der Ermittlungen viel geschrieben – gibt es denn Positives, von dem Andreas Jäger sagen kann: „Das ist ganz gut gelaufen?“ Ja: Hanau sei der einzige Fall unter all den Attentaten, in dem man mehr über die Opfer wisse und in dem mehr über die Opfer geredet werde als über den Täter. Wer sich mit dem Attentat beschäftigt hat, kann das bestätigen. In Hanau wird man oft an die Namen und Gesichter der 9 jungen Menschen erinnert. Auf der auf Leinwänden in der ganzen Stadt und im Fernsehen übertragenen Gedenkfeier am 04.03.2020, bei der nach seiner Einschätzung so viele politische Würdenträger wie noch nie zuvor in Deutschland bei ähnlichen Anlässen versammelt waren, wurde viel Wert darauf gelegt, die Opfer zu vergegenwärtigen und die Angehörigen zu Wort kommen zu lassen.
Die Frage nach den Konsequenzen: Was hat man gelernt? Hat sich etwas verbessert? Die Verwaltung der Stadt Hanau habe viel dafür getan, ihre Hilfsstrukturen zu verbessern und Hilfe schneller ankommen zu lassen. Bei der Polizei wurde die Rufweiterleitung installiert, so dass es zu keiner Überlastung der Leitungen mehr kommen solle. Bundesweit wurde 2022 ein Demokratiefördergesetz verabschiedet zur Prävention jeglicher Form von Extremismus, Förderung der Demokratie und Stärkung gesellschaftlicher Vielfalt durch die Bezuschussung von Projekten und Programmen mit diesen Zielen.
Ebendiese Förderung der Vielfalt, die sich in der Gesellschaft bzw. in allen gesellschaftlichen Institutionen, sei es nun Verwaltung, Bildungseinrichtung, Feuerwehr, ehrenamtlichen Vereinen etc. abbilden soll, wird von den Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmern als besonders wichtig begrüßt und als Präventionsmaßnahme unterstrichen. Das Attentat in Hanau habe verdeutlicht, dass es an dieser selbstverständlichen bunten Vielfalt immer noch mangele und dass sich dies ändern müsse. Zum Gesprächsende setzt sich noch eine zweite Erkenntnis durch: Auch wenn die Opfer in Hanau gut integriert waren – das ist nicht immer so. Oft bewegen sich Mitglieder in unserer Gesellschaft nur in ihrer jeweiligen „Bubble“ und „mischen“ sich nicht. Und: Jede/r könne selbst etwas zur Integration beitragen und man solle sich nicht auf der Einstellung ausruhen, dass „die anderen“, womöglich als „fremd“ oder „anders“ Empfundenen, sich doch selbst integrieren sollen. Ein Teilnehmer gibt zu, nach den Ereignissen in Hanau erkannt zu haben, dass es nicht reiche, darauf zu vertrauen, dass andere die Integration schon fördern, z.B. auf Stadtfesten. Nein, man könne durch eigenes Aktivwerden, z.B. durch gezieltes Ansprechen und Werben für Vereine für die Abbildung der bunten Vielfalt der Gesellschaft in Institutionen oder auch Bürgerinitiativen sorgen und somit Hemmschwellen und Berührungsängste abbauen.
Sichtlich berührt und nachdenklich verlassen die Jugendlichen und die Erwachsenen die Runde und sind dankbar für das Gespräch mit Andreas Jäger, für den sowohl die tragischen Ereignisse und Pannen in der Nacht vom 19.02.20 als auch das Leiden der Angehörigen seit nunmehr 3 Jahren täglich präsent sind. Und er versäumt zum Abschluss nicht, auf eine Ausstellung im Hanauer Rathaus aufmerksam zu machen, die vom 01.02. – 18.03.2023 beides in den Blick nimmt:
„Hanau 19.Februar 2020 – Drei Jahre Erinnerung und Aufklärung“ Die Ausstellung ist täglich von 10 – 17 Uhr für die Öffentlichkeit kostenlos zugänglich. Auf der Website „Hanau-steht-zusammen“ heißt es erklärend dazu: „Ein Teil der Ausstellung dokumentiert in einer Zeitleiste und in Videorekonstruktionen sehr detailliert die Tatnacht und thematisiert dabei insbesondere die Fehler und Versäumnisse der Polizei. Ein zweiter Teil zeichnet den Kampf der Angehörigen, Überlebenden und ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer um Erinnerung und Aufklärung nach.“ Schulklassen und andere Gruppen können auch außerhalb der Öffnungszeiten Termine und Führungen mit Angehörigen der Opfer vereinbaren. |
