Intensiv – exzessiv – problematisch: Internet- und Computerspielsucht
Was einst als kurzfristiges Projekt an der Uniklinik in Mainz begann, erhielt schnell großen Zulauf und vergrößerte sich, sodass heute Patientinnen und Patienten aller Altersklassen in der Ambulanz für Spielsucht behandelt werden. Dr. Kai Müller referierte im Rahmen einer Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer und in einem Elternabend am Dienstag, 18.2.2020 über Risikofaktoren und Behandlungsansätze dieser substanzungebundenen Sucht sowie über Strategien der Spieleentwickler, um Konsumenten möglichst langfristig und gewinnbringend zu binden.
Während die Verteilung auf die Geschlechter männlich und weiblich sehr unterschiedlich ausfalle (91% / 9%), erstrecke sich die Altersspanne der Patientinnen und Patienten mit einer Mediensucht-Problematik über den Großteil unserer Gesellschaft (9 – 63 Jahre). Internet- und Spielesucht seien laut Müller also bei weitem kein Thema, welches ausschließlich für Jugendliche von Bedeutung sei. Ebenso vielfältig würden die unterschiedlichen Bereiche der Internet- und Spielesucht ausfallen. Sie beinhalteten beispielsweise die Sucht nach Social Media, Onlinespielen, Onlineeinkäufen oder Internetpornographie. Zwei bis vier Prozent der Jugendlichen seien von Mediensucht betroffen, was im Kontrast zu anderen psychischen Krankheitsbildern schon ein höherer Wert sei. Bei ca. fünf Prozent liege außerdem ein zumindest problematisches Mediennutzungsverhalten zu Grunde, das wieder in geregelte Bahnen gebracht werden müsse. Ein Vorteil sei aber laut Müller, dass im Jugendalter eine große Resilienz gegeben sei. Vieles „verwachse“ sich wieder und brauche keine medizinische Unterstützung.
Obwohl es sich bei den Internet- und Spielesüchten um substanzungebundene Süchte handelt, hätten diese viele Gemeinsamkeiten mit substanzgebundenen Süchten wie Alkohol- oder Tabakkonsum. In der Regel erfolgten die Veränderungen jedoch etwas langsamer und weniger radikal. Bei beiden Suchtformen gilt, dass eine Klassifizierung in „süchtig“ und „nicht süchtig“ schwerfällt, und die Kategorisierung der Suchtsymptome anhand eines Kontinuums (milde, moderate, schwer ausgeprägte Symptome) erfolgen müsse, so der Referent.
Eine der am stärksten wachsenden Konsequenzen, vor allem bei der Spielsucht, sei die Überschuldung. Vor allem durch die cleveren und meistens fähigkeitsverbessernden Monetarisierungsstrategien der Spieleentwickler würden gezielt Jugendliche zum virtuellen Kauf verleitet, welcher sich dann sehr real auf der nächsten Rechnung niederschlage. Weitere Konsequenzen könnten eine verringerte Impuls- oder Emotionskontrolle sein, sowie das, was die Betroffenen häufig als „online versacken“ bezeichneten. Dann drehe sich alles um das Computerspiel, und es finden kaum noch Erlebnisse in der realen Welt statt. Nicht zuletzt könnte es weitere, z.T. krankhafte Begleiterscheinungen, wie z.B. Schlafstörungen, Leistungsabfall oder Depressionen geben.
Problematisch sei in der öffentlichen Auseinandersetzung mit Mediensucht, dass in den Medien ausschließlich defizitär und unobjektiv über Mediennutzung berichtet würde. Dabei lägen inzwischen auch valide Studien vor, die belegten, dass Medien auch positive Effekte mit sich bringen würden, etwa in den Bereichen Resilienz/Erholung oder soziale Interaktionskompetenzen. Deshalb seien Längsschnittstudien notwendig, um Kausalitäten herzustellen – wie bei der Beurteilung eines individuellen Suchtverhaltens eben auch mehrere Aspekte in der Anamnese berücksichtigt werden müssten.
Mittlerweile werde die Internet- und Computerspielsucht als eigenes Krankheitsbild anerkannt. Auf Beschluss der WHO wird das Störungsbild in den sog. ICD-11 aufgenommen und wird ab 2022 dann auch Kassenleistung werden.
Für eine erste Selbsteinschätzung sollten laut Müller folgende Fragen beantwortet werden:
- Nimmt die Mediennutzung immer wieder exzessive Züge an?
- Stellt die Nutzung den zentralen Lebensinhalt dar?
- Erfolgt die Mediennutzung nicht primär aus Spaß, sondern aus Druck und Verdrängung?
- Kann die Nutzung nicht mehr eigenständig geregelt werden?
- Führt die Mediennutzung zu negativen Begleiterscheinungen?
Würden die Fragen mehrheitlich mit Ja beantwortet werden, dann sollte eine Fachstelle aufgesucht werden. Die regional nächste Anlaufstelle könne man im Internet unter www.fv-medienabhaengigkeit.de recherchieren.
Auch an der Kreuzburg besteht darüber hinaus die Möglichkeit, die schulischen Beratungs- und Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen.